Von CARL CHRISTIAN JANCKE

Friederike Sehmsdorf hat auf Facebook eindrucksvoll und reflektiert die aus ihrer ostdeutschen Biographie geprägte Sicht auf die deutsche Einheit und die Lage der Nation beschrieben. Ohne dem zu widersprechen, will ich mit westdeutscher Biographie als gebürtiger Rheinländer eine zweite Perspektive ergänzen. So ergibt sich ein räumliches Bild. 

Die Wende zum Schlechteren begann im Westen mit der ersten großen Koalition unter Kiesinger und Brandt. Sie war das Misstrauensvotum gegenüber der sozialen Marktwirtschaft anlässlich der ersten kleinen Konjunkturkrise und mit Dutschke und Konsorten wurde der Marxismus an den Universitäten hoffähig und bald schon so dominant, dass sich in Deutschland nach 1970 so gut wie keine neue Literatur über den möglichen Zusammenbruch der Zentralverwaltungswirtschaften sowjetischen Typs mehr finden ließ. Ota Sik, der ökonomische Vater des Prager Frühlings ging nicht umsonst in die Schweiz. Ich weiß das, weil ich am 20. November 1989 meine Diplom-Arbeit zum Thema “die Reformierbarkeit von Zentralverwaltungswirtschaften am Beispiel der Volksrepublik Ungarn” abgegeben habe. Die akademischen Erkenntnisse wurden von den realen Ereignissen übertroffen.

Der von Dutschke ausgerufene “lange Marsch durch die Institutionen” (Mao lässt grüßen)  war  ein trojanisches Pferd, dass sie grün angestrichen hatten. Die Antiatomkraftbewegung und die Friedensbewegung waren die Kolonnen des Sozialismus. Während Brandt mit dem Wandel durch Annäherung die Lebensbedingungen im Osten verbessern wollte, hielten seine Jünger den Sozialismus in der DDR für das bessere System, das nur bedauerlicherweise schlechter gemacht war. Sie hatten sich schon damals im Staatsdienst bequem gemachten und revoltierten gegen den “Extremistenerlass”. Bald gab es das SED/SPD-Papier, mit dem sich Erhard Eppler als Konterpart von Helmut Schmidt positionierte und die junge Garde der Ministerpräsidenten gab sich bei Erich Honecker die Klinke in die Hand. Von friedlicher Koexistenz und Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft war die Rede.  

Ich selbst habe bis zum Novembe 89r keine zwei Tage in der DDR verbracht. Ich war immerhin mehrfach per Flugzeug in West-Berlin. Ansonsten 8 Monate in Australien, zusammengerechnet immerhin mehr wie einen in Nordamerika oder mindestens ein zusammengerechnete Jahr in Frankreich, Wochen und Monate in der Schweiz, Norwegen, Österreich und Italien. Alleine in Rom verbrachte ich einmal drei Wochen am Stück. Spanien habe ich vergessen. Als einer meiner besseren Freunde als Investmentbanker in London arbeitete, lernte ich das schätzen. Und als die Eltern ihre Kinder nebst Anhang anlässlich der goldenen Hochzeit nach New York einlud, traf ich eine Schulfreundin auf der Straße. Und so ging es den meisten. 

Für die meisten Bundesdeutschen war die DDR was für Klassenfahrten und Sonntagsreden. Die Strafe für den Nationalsozialismus, wie Günter Grass schrieb, die wir glücklicherweise nicht auszubaden hatten. Das Schicksal der ostdeutschen Schwestern und Brüder beschäftigte uns nicht wirklich und wir wunderten uns immer ein wenig über die merkwürdigen Geschichten von der Stasi,die Lothar Löwe und später Claus Richter aus diesem merkwürdigen Freiluftmuseum berichteten, in denen es nicht mal die Jacobs Krönung zu kaufen gab. Im Grunde waren wir ganz froh, dass die Sowjets uns vor der Beantwortung der deutschen Frage schützten und es bei den Lippenbekenntnissen blieb. Das gilt gewiß nicht für jeden aber eben doch für den Zeitgeist, der längst ein Genosse war.

Ich selbst war als Transatlantiker, Marktwirtschaftler, Liberaler Teil einer schweigenden Mehrheit und versah brav und bequem meinen Wehrdienst, las 1983 Gluckmanns “Philosophie der Abschreckung” und hätte mir von Kohl gewünscht, dass er ein bisschen mehr wie Thatcher und Reagan gewesen wäre. Aber die Wahlergebnisse zeigten auch, dass die meisten Deutschen bürgerlich wählten. Die SPD brauchte erstmal die FDP zum Regieren, 1976 holte Kohl 49,5 Prozent und gewann 83, weil er für die Atomkraft und für die Nachrüstung war. Die erste Rot-Grüne Regierung gab es 1998 und erwies sich als liberaler als die von Merkel geführten. 

Den 3. Oktober 1990 verbrachte ich tief im Westen in meiner Stammkneipe, dem goldenen Einhorn auf der Düsseldorfer Ratinger Straße, die damals schon eine Legende war, weil in diesem Häuserblock die “neue Deutsche Welle” und der deutsche Punk-Rock entstand. Die 24.00 Uhr Besinnung wurde als kurze Unterbrechung des alltäglichen Prozedere gesehen, ich fühlte mich merkwürdig. 

Über die Einheit war ich nicht glücklich aber ich habe mich sehr gefreut. Die Ostdeutschen hatten sich Freiheit und Demokratie erkämpft, unsere Eltern wären dazu gezwungen worden, hätten die meisten davon das nicht als Geschenk begriffen. Das macht uns aber eben auch gegenüber den Ostdeutschen ein wenig eifersüchtig und erklärt unsere unsichere Überheblichkeit. 

Ich gestehe, ich gehöre zur Alterskohorte der Kolionalisten und Profiteure. Mit immerhin rund zwei Jahren Berufserfahrung machte man mich zum Pressesprecher einer Treuhand-Niederlassung und bald auch zum politischen Koordinator. Das kurze Vorstellungsgespräch erstreckte sich auf die Frage: “Sind sie vorbestraft?”. 

Obwohl ich vielen sicher als Besserwessi erschien und als arroganter Schnösel, wuchs mein Respekt vor der Lebensleistung der früheren DDR-Bürger, denen ich manch schlechte Nachricht persönlich überbringen musste. Sie haben es mit einer Haltung ertragen, die ich manchem Journalisten heute wünschte. Ich bin aber felsenfest davon überzeugt, dass es zu Rohwedders Dreiklang: “Schnell privatisieren, entschlossen sanieren und behutsam liqidieren” keine Alternative gab, auch wenn viel, sehr viel falsch gemacht wurde und manche Hasadeure an verantwortlicher Stelle sassen. 

Der Ostblock ist implodiert. Wären die russischen Panzer nochmal zum Brandenburger Tor gerollt, wenn sie genug Sprit im Tank gehabt hätten? Seitenweise wurde im Edelvorwärts “Die Zeit” in den Achtzigern diskutiert ob die greisen Sowjets auf den roten Knopf drücken, wenn ihr Imperium untergeht?. Gorbatschow tat das nicht. Er gab seinen Vorhof auf, um die Macht im eigenen Land zu retten. 

Das beschränkt nicht den Mut der Osteuropäer und -deutschen. Als sie auf die Straße gingen, konnten sie das nicht wissen. Aber im Fluidium der Freiheit schwang wohl doch auch die Sehnsucht nach dem im Werbefernsehen zu besichtigenden Wohlstand und dem Farbfernseher mit. 

1990 schien der Marxismus geschlagen und ökonomisch war er das auch. Das versetzte die Mehrzahl der 68iger in eine Schockstarre, in der sie ein paar Jahre verharrten. Schröder setzte bei seinem Wahlsieg nicht auf die alte Linke sondern auf die “neue Mitte”. Um die Jahrtausendwende berappelte man sich noch einmal kurz vor dem Erreichen der Pensionsgrenze, so ein langer Marsch ermüdet. Aber sie hatten dem Zeitgeist längst ihren Stempel aufgedrückt. Die grüne Saat ging auf und diejenigen, die von ihnen erzogen, gebildet und geprägt wurden, sagten nun statt Kapitalismus  Globalisierung Neoliberalismus und Marktradikalismus. Das Feindbild hat nur neue Namen bekommen. 

Und so war die die Linke (nicht die Partei, die war nie weg) Anfang des Jahrtausends wieder da. Wie schon früher grün lackiert. Nachdem es mit den Beweis der Ausbeutung der Arbeiterklasse nicht so geklappt hatte, musste nun die Umwelt und das Klima als Legitimation für den staatlichen Interventionismus und die Ausgrenzung der Freisinnigen herhalten. 

Merkels asymmetrische Demobilisierungsstrategie hat das bürgerliche Lager marginalisiert. Westerwelle hatte die FDP dazu instrumentalisiert, Außenminister zu werden. Seither bleibt die ein Schatten ihrer selbst und keine bürgerliche Alternative zur nicht mal mehr schwarz lackierten Christlich-Grünen TINA-Partei (There is no alternative.). Klimawandel und Corona dienen längst zur Disziplinierung des Bürgertums. Eine Schlüsselrolle spielen dabei die Leitmedien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die uns zur richtigen Haltung bringen wollen. Von Überzeugen kann nicht die Rede sein. 

Friederike Sehmsdorf spricht richtigerweise an, dass die allermeisten Spitzenpositionen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft von Westdeutschen besetzt und dominiert sind und zitiert ein Interview von Peter-Michael Diestel. Das liegt vordringlich an meiner Generation der westdeutschen “Baby-Boomer”. Wir hatten Anfang der Neunziger gerade unser Studium beendet. Die vielen in den siebzigern geschaffenen Lehrstühle hatten damals die Achtundsechziger besetzt und die hatten noch mindestens 20 Jahre bis zur Rente. Die Verwaltung wurde zeitgleich aufgebläht, auch hier war für uns junge westdeutsche kein Platz. Die Einheit war für unsere Generation ein Karrieresprungbrett. Im Osten gab es Jobs, die wir in der Regel im Westen mit Ende 20 nicht gekriegt haben. Mit Mitte Fünfzig kleben wir jetzt wie die Altvorderen an den Stühlen und warten auf den wohlverdienten Ruhestand. 

Die nächste Alterskohorte wird viel durchwachsener sein. Es werden auch viele, gut ausgebildete Menschen mit Migrationshintergrund darunter sein, Menschen, die vielleicht primär Mecklenburger, Vorpommern, Brandenburger, Berliner, Sachsen, Thüringer und Sachsen-Anhaltiner sind. Aber auch Saarländer, Bayern, Rheinländer und Westfalen, Hamburger oder Schleswig-Holsteiner. Diskriminierungsfrei wird unsere Gesellschaft erst sein, wenn die Qualifikation und der Charakter entscheiden und keiner mehr auf Herkunft, Geschlecht und Hintergrund zählt. 

Ich selbst definiere mich nicht über meine westdeutsche Identität. Aus großbürgerlichen Hause bin ich den Werten der Aufklärung verpflichtet. Ich bin in Düsseldorf geboren und geprägt, bin am Bodensee auf dem Internat gewesen, habe in Freiburg und Passau studiert, war oft gern und gut in München, wo ich ein Jahr gearbeitet habe, bevor es mich über Düsseldorf nach Schwerin, Halle und Berlin verschlug. Deutschland ist ein schönes Land, reich an Landschaft, Chancen und tollen Menschen, das von seiner Vielfalt lebt. Einheit braucht Vielfalt und Vielfalt Unterschiede. Das Gegenteil von kollektiver Gleichmacherei. 

Wenn wir durch Deutschland fahren und das gilt immer mehr auch für den Osten, steht in jedem zweiten Dorf eine Fabrik. Geführt von einem dieser sagenumwobenen Mittelständler. Wenn der Chef durch die Halle läuft, kennt er fast jeden Mitarbeiter mit Namen, meist war der Opa hier schon beschäftigt und der Enkel geht gerade in die Lehre. Das ist das Rückrat Deutschlands, die hidden Champions und die Exportweltmeister, die nicht schlafen können, wenn sie Aufträge verlieren, weil sie vielleicht jemanden entlassen müssen. Diese gewachsene Strukturen, diese Unternehmer kriegt kaum eine falsche Politik kaputt. 

Ich bin nicht stolz, denn dafür kann ich nichts, ein Deutscher 

zu sein. Aber ich bin das gerne. Und ich bewundere die Ostdeutschen für ihr Leben. Gerhard Schröder hat gerade im ZDF gesagt: Die können stolz auf ihr richtiges Leben sein, auch wenn es im falschen System war. Dafür konntet Ihr ja nichts. 

Während und seit mein Vater starb, war ich oft wieder zuhause in Kalkum. Das ist ein Dorf geblieben, obwohl es zum Vorort Düsseldorfs wurde, weil es seinen Zusammenhalt und seine Traditionen bewahrte. An jedem 11. November wird das St. Martins Fest gefeiert. Auf einem schweren Kaltblüter reitet der heilige Martin auf der Umgehungsstraße um das Dorf um sich an die Spitze des im Unterdorf wartenden Zugs der Kinder zu stellen. Dort warten die Kameraden der freiwilligen und der Jugendfeuerwehr, die den Zug mit Fakeln begleiten  und mehr als 1000 Kinder mit ihren Laternen sehnsüchtig. An der Spitze des Zuges folgt ihm das Tambour-Korps der Schützenbruderschaft, mit manchen der Trommler und Pfeiffer habe ich auf der Grundschule auf einer Bank gesessen. Die Bruderschaft gibt es seit 1429, die Kirche, an der man mit “St.Martin” und “Lasst uns froh und munter sein” vorbeizieht, stammt mindestens aus dem 13. Jahrhundert. Auch wenn diese bürgerlichen Kräfte derzeit keine wirkliche politische Interessenvertretung haben, so werden sie sich nicht verbiegen lassen. Für mich kommt dabei das Gefühl von Ursprung und Heimat auf, auch wenn ich wohl nie dorthin zurückkehre. So hat jeder seine Identität. Gerd Habermann hat übrigens einmal despektierlich bemerkt: Wäre St. Martin ein Liberaler, dann hätte er eine Mantelfabrik gegründet. 

Es gibt Entwicklungslinien, die sind älter  und länger als die letzten 30, 70 oder 100 Jahre. Und Traditionen, die sich irgendwann wieder durchsetzen. Ihre Träger stehen nicht im Rampenlicht und legen keinen Wert auf einen Auftritt bei den Talk-Show-Dominas. Sie sind im Osten und im Westen die Träger der Vernunft und gar nicht soweit auseinander als Leistungsträger unserer Gesellschaft. Deshalb mahne ich zu mehr Gelassenheit. Und zitiere eine bedeutende Person der Zeitgeschichte: “Wir schaffen das”.