von CARL CHRISTIAN JANCKE

Kurt Hahn war ein jüdischer, deutschnationaler, anglophiler Internationalist. Dass er gemeinsam mit Prinz Max von Baden nach dem ersten Weltkrieg Salem gründete, ist weithin bekannt. Dass Hahn eine entscheidende Rolle bei der Abdankung von Wilhelm II. spielte, nicht. Er steht stellvertretend für die Selbstverständlichkeit, mit der jüdische Bürger in jener Zeit an Bedeutung in Industrie und Wirtschaft gewonnen hatten. Im aufstrebenden Bürgertum genossen sie selbstverständlich Ansehen und hatten Einfluß.

Kurt Hahn wurde in ein solch großbürgerliches Haus hineingeboren. Sein Vater führte die “Hahnschen Werke”, eine Familien AG, die Stahl- und Röhrenwerke betrieb. Seine Mutter, geb. Landau entstammte einer renommierten Rabbinerfamilie  und führte in der Hahnschen Villa einen großen politischen Salon mit renommierten und bekannten Intellektuellen und Künstlern. 

 

Zur Weltoffenheit in jener Zeit gehörte auch, dass Hahn zum Studium nach England ging. In Oxford schrieb er sich am Christ Church College ein und studierte klassische Philosophie. Zwischen 1906 und 10  hörte er alle intellektuellen Größen an den Universitäten Heidelberg, Berlin, Freiburg und Göttingen und veröffentlichte 1910 seine erste Erzählung “Frau Elses Gnade”, die bei der Familie nicht auf fruchtbaren Boden fiel. Zurück in Oxford beschäftigte er sich mit Kant und Hegel und begann sich für Erziehung zu interessieren.

 

Er betätigte sich am College sportlich und begeisterte sich für die großen Debatten, die von der Students Union mit Regierungsmitgliedern und Parlamentariern veranstaltet wurden So entstand seine Vorliebe für die politische Kultur und die Erziehung in britischen Internaten. Doch das Attentat am österreichischen Thronfolger beendete diese Etappe. Der erste Weltkrieg brach aus. 

 

Nach einem Sonnenstich und zahlreichen Kopf-OPs war Hahn nicht wehrfähig und trat so in die Außenstelle “Auslandsdienst” des Auswärtigen Amtes ein. Dort analysierte er die britische Presse,  um die Stimmung beim Gegner einschätzen zu können.Trotz seiner 30 Jahre war sein Rat offensichtlich sehr gefragt. Die Außenstelle erwies sich als Keimzelle der deutschen Politik- und Geschichtswissenschaft, wie Dr. Michael Knoll in Kurt Hahn – ein wirkungsmächtiger Pädagoge. Aus: Pädagogisches Handeln. Wissenschaft und Praxis im Dialog 5 (2001) schreibt, der mein lückenhaft vorhandene Wissen um viele Details erweitert hat. 

 

Hahn war dem männlichen Geschlecht zugetan, was sein Schüler, der renommierte Historiker Golo Mann schon früh bestätigte. Lothar Machtan offenbarte 2013  in einer Biographie Max von Badens die längst bekannte Tatsache, dass es bei ihm nicht anders war. Auch wenn er als verheirateter Mann – wie damals üblich – der Pflicht zur Zeugung eines Nachfolgers nachkam.  So werden die beiden sich in gleichgesinnten Kreisen begegnet sein und Hahn entwickelte sich auch zum Ratgeber und Unterstützer des Prinzen. 

 

Anders als im zweiten Weltkrieg war das hauptstädtische Leben der Großbürger und Adeligen während des ersten Weltkriegs nicht  direkt vom Kriegsgeschehen betroffen. Die Front war mindestens 1000 km entfernt. Es gab keine Bombenangriffe. Man traf sich und diskutierte die politische Lage und Hahn muss wohl so etwas wie ein Netzwerker gewesen sein. Er reiste durch halb Europa und sprach vor rechten und linken Verbänden und Vereinigungen, um auf einen schnellen, gesichtswahrenden Frieden hinzuwirken. Nur am kaiserlichen Hof geriet er in Ungnade, weil er 1917 gegen die Verschärfung des U-Boot-Krieges opponierte. Das brachte ihn eine “Strafversetzung” in die “militärische Außenstelle” ein und ins Umfeld des Generalstabschefs des Oberbefehlshabers von Hindenburg, Ludendorff. So wuchs sein Einfluss und das, was man heute Vernetzung nennt, weiter. 

 

Hahn soll selbst seinen Freund, den badischen Thronfolger als Reichskanzler ins Gespräch gebracht haben, der einen für alle Seiten gesichtswahrenden Frieden erreichen wollte. Doch als der im Herbst 1918 für wenige Wochen ins Amt kam, sagte er „Ich glaubte, fünf Minuten vor zwölf zu kommen, und bin fünf Minuten nach zwölf gerufen worden.“ 

 

Nachdem die vom Generalstabschef Ludendorff geplante Frühjahrsoffensive keinen Durchbruch brachte, plädierte der für ein Waffenstillstandsgesuch und die Parlamentarisierung der Armee, um die konstitutionelle Monarchie zu retten, Damit hatte Deutschland seine Verhandlungsposition frühzeitig unterminiert und die Kriegsgegner forderten nun die Kapitulation. Das war bereits im September. Die Chance auf den von Hahn und Baden gewollten Verständigungsfrieden war vertan. 

 

Ob die Straßenkämpfe und auch die Kieler Revolte von Marinesoldaten die Entwicklung beschleunigt haben, kann man nicht sagen. . Nach Ludendorffs Kardinalfehler war die Messe wohl gelesen. 

 

Der einzige, der wohl nicht wusste, was die Stunde geschlagen hatte, war der Kaiser selbst. Der Privatsekretär des Reichskanzlers, Kurt Hahn, dürfte die Abdankung des Kaisers formuliert haben, die Prinz Max verkündete, bevor sich Wilhelm II. dazu entschieden hatte. Geschichte war gemacht. 

 

Lothar Machtans Hypothese, die Kaiserin habe den Prinzen in einem Telefonat mit seiner Homosexualität erpressen können, ist abwegig. Er behauptet, Baden hätte sich sonst als Reichsverweser und Nachfolger des Kaisers einsetzen lassen können. 

 

Dem sozialdemokratischen Staatssekretär in der Regierung Baden Philipp Scheidemann kam zu Ohren, dass der Kommunist Karl Liebknecht die Räterepublik (Rat=Sowjet) ausrufen wollte, kam der Sozialdemokrat Friedrich Ebert  zuvor. In der Mittagspause, oder wie er sagte “zwischen Suppe und Nachtisch” zuvor und verkündigte die Republik vom Balkon des Reichstags aus. Das war gut so. .

 

Max von Baden hatte mit der Abdankungserklärung seine Amtsvollmacht an Friedrich Ebert (SPD) übertragen. Der wiederum bat den Prinzen, solange als Reichsverweser tätig zu sein, bis ein Nachfolger des Kaisers gefunden sei. Damit dürfte die abenteuerliche Idee, wir hätten keinen Kaiser mehr, weil der Prinz von Baden schwul war, wohl als widerlegt gelten.   

 

Öffentlich setzte sich Hahn auch jetzt für einen Verständigungsfrieden ein, schreibt Knoll. So initiierte er die Gründung einer “Heidelberger Vereinigung” durch Prinz Max, Max Weber, Robert Bosch und andere Prominente, die einen “Frieden des Rechts und der Gerechtigkeit” auf der Basis der 14 Punkte des US-Präsidenten Wilson wollten. 

 

Hahn wurde Sekretär der deutschen  Verhandlungskommission in Versailles, die Rede des Außenministers von Brockdorff-Rantzau stammte im wesentlichen aus seiner Feder. Vor allen Dingen aber dieses Zitat:  „Es wird von uns verlangt, daß wir uns als die allein Schuldigen am Kriege bekennen; ein solches Bekenntnis wäre in meinem Munde eine Lüge“. Die Demütigung von Versailles, die das Scheitern der Weimarer Republik im wesentlichen bewirkte, konnte auch Kurt Hahn nicht verhindern. 

 

Auch wenn er von der politischen Bühne abtrat und sich mit Prinz Max an den Bodensee zurückzog, blieb er doch politisch aktiv. Es ging ihm – wie vielen – um die Widerlegung der Kriegsschuldlüge, die wiederum die Legitimierung für Landverluste und Reparationen war. Hahn wollte ein  „Institut für auswärtige Angelegenheiten“  einrichten, das, von internationalen Wissenschaftlern geführt, die Kriegsschuldlüge widerlegen und Deutschlands Reputation wiederherstellen sollte. Und er widmete sich der politischen Schriftstellerei und verfasste als Ghostwriter die Memoiren des Prinzen Max. 

 

Der Weimarer Republik blieb Hahn als Teil der vom Kaiserreich geprägten Elite skeptisch gegenüber: “Die Aristokratie ist das Salz in der Suppe der Demokratie”, beschrieb er seine damalige Grundhaltung. Und so war das Salemer Internat in der Form eines Ständestaates organisiert, in dem die Schüler-Eliten, die den Alltag unter den Augen der Pädagogen organisieren und bewältigen und ihre Nachfolger in geheimer Wahl selber wählen. Die der Legitimation des Lehrkörpers bedurften. So blieb es bis in die siebziger Jahre. Und bei den Salemer Schulleitern in seiner Nachfolge setzte Hahn auf blaues Blut. Der Prinz von Hannover, der Widerstandskämpfer Axel von der Bussche oder Horst Freiherr von Gersdorff und Hartwig von Bernstorff führten die Schule in den Fünfzigern und Sechzigern mit preußischem Korps- gegen den Zeitgeist. 

 

Sie wollten „eine geistig-sittliche, körperlich gesunde Führungsschicht” heranzuziehen, „die einmal im Staate als Aristokratie [der Gesinnung] Führungsaufgaben übernehmen sollte” .

Die “Erziehung zur Verantwortung” sollte dies bewirken. Salemer Schüler sollten immer “das für Recht Erkannte” durchsetzen. Hahn hatte in seiner Zeit im Vereinigten Königreich das Zusammenspiel von Eliten erlebt, die von den public schools nach Oxford oder Cambridge wechselten und ein lebenslanges “Old boys Network” bildeten. In Deutschland gab es damals ein vergleichbares Netzwerk aus Soldaten-, Beamtenadel, Intellektuellen und Großbürgern. Nur war deren Tradition eine andere, nicht wie in Westminster dem Parlament und dem Volkswille verpflichtet sondern der Obrigkeit. Und die war nun verloren. 

 

Die Salemer Schülerschaft rekrutierte sich natürlich aus dem fortschrittlicheren Teil des Adels aber auch aus dem verarmten. Auch viele jüdische Familien schickten ihre Kinder dorthin. Von denen zahlten viele freiwillig mehr als das Mindestschulgeld und finanzierten so das Schulgeld manches Sprosses des ostelbischen Adels. Als die jüdischen Kinder Salem 1933 verlassen mussten, war die Schule faktisch pleite. Es fehlten eben nicht nur deren Schulgelder, sondern die Gelder der wohlhabenden, die den Stipendienfonds finanzierten.

 

Zunächst war Hahns Verhältnis gegenüber den Nazis ambivalent. Im Oktober 1932 prügelten fünf SA-Leute einen kommunistischen Arbeiter zu Tode. Hitler rief seine Gefolgschaft zum Widerstand gegen die verhängte Todesstrafe die er als “Bluturteil” brandmarkte, auf. Hahn erklärte in einem Telegramm an die Mitglieder des Salemer Bundes (der Altschüler) die Unvereinbarkeit des Treueverhältnisses zu Salem und der Mitgliedschaft in SA und SS. 

 

Hahn war trotz seiner nationalen Gesinnung ein Großbürger, der von Philosophie, Aufklärung und humanistischen Idealen geprägt war. Doch für die Verhinderung des zweiten Weltkriegs und der Nationalsozialisten kam Salem zu spät. Immerhin haben in der Bundesrepublik Schüler aus seiner Zeit bedeutende Rollen gespielt: Die Politikerin Hildegard Hamm-Brücher, die Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann und der Historiker Golo Mann (Sohn von Thomas Mann).

 

Markgraf Bernhard, erster Schüler Hahns und Nachfolger von Max, der 1929 verstorben war, telegrafierte am 11. März 1933 an Reichspräsident von Hindenburg: “Teile Eurer Excellenz mit, daß seit heute nacht Schloss Salem von Hilfspolizei umstellt ist. Grund, der Leiter der Schloss-Schule stehe in Verdacht der Verbindung mit Kommunisten und Sozialdemokraten .. . Die Schule Schloss Salem hat Ansehen weit über Deutschland hinaus. Für ihren nationalen Geist trage ich die Verantwortung. Was eben geschieht, ist eine Beleidigung für mich und mein Haus”. Die “Hilfspolizei” waren SA und SS und Hahn wurde in Schutzhaft genommen. 

Tatjana Metternich berichtet laut Wikipedia von dem persönlichen Versuch des Markgrafen, bei Hitler die Wiedereinsetzung Hahns in Salem zu erreichen: 

 

„Obwohl er Hitler aus Instinkt, Überzeugung und Tradition verabscheute, war er gekommen, um die Erlaubnis zu erlangen, Dr. Hahn als Leiter der berühmten Schule in Salem, die sein Vater, Prinz Max, gegründet hatte, zu behalten: seine schüchterne Art täuschte über innere Entschlossenheit hinweg. Er gehörte zu jener klassenlosen ‚Aristokratie der Feinfühligen, Rücksichtsvollen und Schneidigen‘, die ihre besondere Kraft aus der Verbundenheit mit ihrem Boden zogen. Den Nazis blieben sie ebenso unbegreiflich wie jene ihnen.

Jeder Augenblick dieser Unterredung war ihm zuwider, doch Prinz Berthold blieb entschlossen, sie durchzustehen. Unseligerweise gebrauchte er mit Bezug auf Hahn die traditionelle Wendung: ‚Er ist unserem Haus sehr verbunden.‘ Das gab Hitler den Vorwand, auf den er gewartet hatte. Die Anwesenden wurden nun Zeugen eines jener öffentlichen unbeherrschten (oder beabsichtigten) Wutanfälle:

‚Jeder scheint seinen Hausjuden zu haben! Das muss jetzt aufhören! Ich dulde keine Ausnahmen!‘

Prinz Berthold, bleich vor Zorn und Abscheu, versuchte erst, seinen Standpunkt zu verteidigen, doch als er merkte, wie zwecklos es war, drehte er sich auf dem Absatz um und ging. Von da an unternahm er alles, um seinen Schützling aus dem Land zu bringen und ihm in England neue Möglichkeiten zu schaffen. Dort gründete Hahn die Schule von Gordonstoun.“

Im Grunde zerstörte der Nationalsozialismus gleich drei Kulturen. Die des Hochadels, die auf eine Reinkarnation der Monarchie hoffte und die Weimarer Republik im Grunde für ein zum Scheitern verurteiltes Experiment hielt, die der Großbürger und Industriellen, zu deren Gunsten das Pendel schon in der Gründerzeit umgeschlagen war. Sie waren Unternehmer, Bänker und Intellektuelle und als vermeintliche “Emporkömmlinge” war ihnen die Herkunft und Religion derjenigen, mit denen sie Handel trieben, egal. Und die jüdische Kultur, die sich wohl zwischen Selbsterhalt und Assimilation bewegte. Nur dass der deutsche Nationalsozialismus nicht nur die jüdische Kultur im Auge hatte, sondern die Juden selbst vernichtete. Das Ende der Zivilisation, wie wir sie kannten.

Selbst der britische Premier hatte sich für Hahns Verbleib in Salem beim Reichskanzler eingesetzt. So wundert es nicht, dass der in Großbritannien mit offenen Armen aufgenommen wurde und in Schottland Salems erste internationale Schule gründet. Prinz Phillip, der spätere Prinzgemahl der Queen hatte dort seine Ausbildung er- und überlebt. Und damit der gerne mit Pflanzen parlierende heutige Thronfolger Prinz Charles für seine zukünftige Aufgaben gewappnet ist, musste er auch das Hahnche Konditionierungsprogramm durchlaufen.

 

1967 fand hier die erste Round Square Conference statt, an der sieben Landerziehungsheime aus der ganzen Welt teilnahmen, die nach den Prinzipien Kurt Hahns erziehen und lehren. Heute sind es 200 Internate auf der ganzen Welt, die sich Hahns erzieherischen und politischen Zielen unterwerfen, denn dass Hahns erzieherisches Konzept auch immer politisch war, das hat schon Golo Mann konstatiert. 

Noch radikaler international ist die Hahn Gründung der “United World Colleges, von denen es 17 auf der ganzen Welt gilt. Hier ist die Schülerschaft jedes einzelnen Colleges so zusammen gesetzt, dass dort Schüler aus möglichst viel Nationen und von möglichst viel Kontinenten zusammen leben, lernen und im Sinne von Hahn erlernen.  

Wurde er auf seine erste Schulgründung angesprochen, so pflegte er zu sagen: “Salem befindet sich auf dem Wege der Besserung”: Nachdem die Nazis die Schule fast zerstört hatten, kehrte sie nach dem Krieg zu ihren aristokratischen Grundsätzen und der Erziehung zur Verantwortung zurück. Mitte der Siebziger Jahre erlebte sie dann die eigene Demokratisierung unter Bernhard Bueb und überstand mit der verstärkten Internationalisierung den mittlerweile gekitteten Bruch mit dem Hause Baden. Ich selbst weiß von den Segnungen dieser Entwicklung, weil ich als Salemer Schüler 1980 acht Monate als Austauschschüler auf dem Round Square Internat Southport in Australien verbrachte. Die Verbindung zur Familie und Heimat waren 14-tägige Luftpostbriefe. Anfang des Jahrtausends gründete die Schule das Salem College, auf dem Schüler aus der ganzen Welt das International Bacchalaureate ablegen – in englischer Sprache. Eine zeitgemäße Interpretation der Hahnschen Idee. 

Heute präsentiert sich die Führung der Schule so provinziell wie die leitenden Angestellten der Berliner Republik. Dem Schülerschwund will man mit einem “Studium Generale” für in der Berufswahl unentschlossene Bürgerkinder und einem Überlinger Aufbaugymnasium erweitern. Hahns Geist scheint entfleucht. Doch er lebt weiter. In Freiburg, ganz in der Nähe von der Hahnschen Gründung Birklehof eröffnete 2014 ein United World College.