Holger Fuß hat ein bemerkenswertes Interview über den SPD-Parteitag im Deutschlandfunk gegeben, nachdem der mit den Sozialdemokraten symphatisierende Autor ein Buch über sie geschrieben hat. Das trägt den aufschlußreichenden Titel: “Will die SPD überhaupt, dass es sie gibt?” Die Frage steht für mich im Raum, seit Willy Brandt Helmut Schmidt verriet. 

 

Fuß sieht dagegen in Hartz IV und Schröders Neoliberalismus die Ursache für ihren Untergang. Das mag für die Programmatik und die Mitglieder gelten, für die Zustimmung in der Wählergunst stimmt das nicht. 

 

Seit dem Godesberger Programm wandelte sich die SPD vom Sozialismus zur Sozialdemokratie. Der Altkommunist Herbert Wehner, Willy Brandt, der VWL-Professor Karl Schiller und der Volkswirt Helmut Schmidt arbeiteten hart an der Regierungsfähigkeit im Bund. Im Focus: der deutsche Facharbeiter, der Leistungsträger des Wirtschaftswunders. Mitbestimmung, Teilhabe am Wirtschaftswunder und Schlechtwettergeld standen auf der Agenda des IG-Bau-Steine-Erden Chefs Georg Leber. Gewerkschaftliche Pragmatiker bestimmten den Ton und die Marschrichtung, die 1967 in die erste Große Koalition führte. Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz machte mit Moral Suasion und Deficit Spending den Keynesianismus justiziabel. Der scheiterte allerdings: Von dem von Karl Schiller ersonnenen vier Zielen wurden drei verfehlt: “ausgeglichener Haushalt”, “Vollbeschäftigung” und “außenwirtschaftliches Gleichgewicht”. Nur die Bundesbank sorgte bald für die Einhaltung des vierten: Geldwertstabilität. 

 

Letztlich setzte der Kanzler Schmidt das Gesetz außer Betrieb und versuchte nicht länger mit “Konjunkturprogrammen” die Massenarbeitslosigkeit zu verhindern, die durch Produktivitätszuwachs und die Ölkrise entstanden war. Kurz vor der Abwahl hatte er schon einen Irrtum geäußert, dem heute noch die europäische Zentralbank aufsitzt: “5 Prozent Inflation sind mir lieber als 5% Arbeitslosigkeit.” Er produzierte beides. Er erkannte seinen Irrtum und hätte wohl auch das “Lambsdorff-Papier” unterschrieben, das 1982 die notwendigen Reformen der überregulierung Republik umschrieb. Insofern war Schmidt als bekennender Anhänger Karl Poppers mindestens genauso ein “Neo-Liberaler” wie später Gerhard Schröder, für den es keine falsche oder richtige Wirtschaftspolitik gab sondern nur eine richtige. 

 

Nach 1968 mutierte die Arbeiter- und Aufsteigerpartei zur Sozialstaats- und Studienratspartei und damit begann der Niedergang. Willy Brandt verriet Schmidt und seinen Fortschrittsglauben auch, in dem er sich an die Spitze der Friedensbewegung stellte und den Atomausstieg beschließen ließ. Die SPD stellte noch ein paar Ministerpräsidenten und konnte verhindern, dass Kohl und Genscher eine konservative Revolution anzetteln könnten. Die SPD wurde immer mehr von der Partei der Leistungsträger zur Umverteilungspartei. 

 

Und dann kam Gerhard Schröder. Der führte die zweite Generation der Pragmatiker und Aufsteiger an: Matthias Machnig, sein Politstratege erfand nicht die “Neue Mitte”, er eroberte sie zurück. Walter Riester war ein gewerkschaftlicher Pragmatiker alter Schule, Bodo Hombach der praxisorientierte Modernisierer. Und es ließen sich viele unideologische FROGs (“Friends of Gerd) die dem folgten. 1999 erarbeitete Hombach gemeinsam mit dem Architekten von “New Labour”, Peter Mandelson das Schröder-Blai-Papier: Für die Briten Realität, für die SPD nicht mehrheitsfähige Zukunftsmusik. Hombac kostete es den Kopf. 

 

Stefan Austs Spiegel schrieb sich die Finger wund und forderte von Schröder endlich die Reformen, für die die “Neue Mitte” ihn gewählt hatte. Der 09. September 2001 verschaffte ihm  eine Atempause und wahrscheinlich auch die Wiederwahl. Der grüne Koalitionspartner mutierte sukzessive zur attraktiven Alternative für scheinbar moderne Etatisten. Gemeinsam mit der ständig neu etikettierten SED-Nachfolgerin mussten sich die drei das Linke lager teilen. Die Neue Mitte war für die SPD unerreichbar. 

 

Und dann kam Hartz IV. Die Wirtschaftskrise ließ keine Wahl mehr. Und mit den kleinen Reförmchen setzte eine bald 15jährige Boomphase ein, der nicht einmal eine ausgewachsene Welt-Finanzkrise etwas anhaben könnte. Schon 2006 erfolgte der wirtschaftliche Umschwung und die Arbeitslosenzahlen sanken merklich. Hätte Schröder bis zum Herbst durchhalten können, hätte er gute Chancen auf eine Wiederwahl gehabt. Doch nachdem die Wahl in NRW krachend verloren ging und das sozialdemokratische Stammland an die CDU fiel, war Franz Müntefering und ihm wohl klar, dass die eigene Partei ihn bis dahin zerissen hätte. 

 

Die Reform war auch nicht neoliberal. Sie kündigte nur den gesellschaftlichen Konsens, dass der Staat einmal arbeitslos gewordenen Bürgern dauerhaft den erworbenen Lebensstandard garantiert, weil sich die steuerlich finanzierte Arbeitslosenhilfe an ihrem bisherigen Einkommen orientierte. So konnten viele ältere aus einer Kombination mit Abfindungen frühzeitig ihren Arbeitsplatz für jüngere räumen. Nur konnte sich der Sozialstaat das 2005 bei 5 Millionen offiziell Arbeitslosen nicht mehr leisten. Die mußten nun auch einen Job annehmen, dessen Bezahlung niedriger lag. 2005 hatten wir rund 38 Mio. Erwerbstätige. Heute sinds es sieben Millionen mehr. Ein grandioser Erfolg, den wir Gerhard Schröder zu verdanken hatte. Steigende Durchschnitts- und Medianeinkommen belegen, dass das nicht mit der Verelendung einher geht. 

 

Angela Merkel besetzte die Plätze, die eine stetig nach links rutschende SPD frei machte. Und die Grünen übernahmen die Rolle der Partei der Staatsbediensteten. Der letzte Parteitag war die Totenmesse der verkümmerten Volkspartei. Ihre Beschlüsse richteten sich an die 10 Prozent der Wähler, die sie für arm hält. Und eben nicht an die Facharbeiter, die Handwerker und die Leistungsträger des Staates. Die gehen zur CDU oder gar zur AfD, weil sie sich von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten werden. Nach der Wahl 2017 habe ich schon in der Jüdischen Rundschau geschrieben: So lange die SPD auf die Verlierer setzt, wird sie verlieren