Eine freiheitliche Ordnung und ein Staatsziel sind per Se unvereinbar. In der Ordnung schützen negative Regeln die Freiheit des Schwachen vor dem Staat und dem Stärkeren. Ein Ziel kann aber nur mit Zwang durchgesetzt werden, wenn es einzelne gibt, die es nicht verfolgen wollen. Wo Zwang herrscht, ist Wettbewerb aus freien Stücken aber nicht mehr möglich.
Deshalb kann nur soziale Sicherheit als Kriterium für einen Sozialstaat dienen. Denn sie versetzt denjenigen, in Freiheit zu leben, der sich diese Freiheit materiell nicht leisten kann. Ein Leben in Würde wird durch das Grundgesetz garantiert und deshalb kann mit sozialer Sicherheit nicht nur das Existenzminimum gemeint sein, sondern ein Quäntchen mehr, dass ein bescheidenes Leben in Zufriedenheit ermöglicht.
Dieser Anspruch kann aber nicht für jeden Bürger gelten, sondern nur für denjenigen, der das aus eigenen Mitteln nicht schafft. Das trifft irgendwann auf nahezu jeden zu. Als Kind und Jugendlicher und im Alter und bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Um möglichst viele Menschen möglichst lange davor zu bewahren, muß der Staat auch Chancengleichheit herstellen, die Kindern und Jugendlichen ermöglicht, die Dinge zu lernen und erwerben, die sie brauchen, um selbstbestimmt und aus eigenen Mitteln zu leben.
“Soziale Gerechtigkeit” als Sozialstaatsziel taugt schon deshalb nicht, weil es sich nicht um ein objektiv erreichbares Ziel handelt, sondern um einen Begriff, von dem jeder eine andere Vorstellung hat.
So werden die Millionengehälter, “Handgelder” und Boni von 20-jährigen Fußballspielern offensichtlich als sozial gerecht empfunden, während die arbeitsrechtlich zwingend gebotenen “Abfindungen” von vor Ablauf ihres befristeten Arbeitsvertrages entlassenen Vorständen und Geschäftsführer von Unternehmen als unangemessen deklariert werden.
Ob Einkommensunterschiede als sozial gerecht empfunden werden und ob “Umverteilung” von oben nach unten angenommen oder abgelehnt werden, ist nicht objektivierbar. Auch die Konsensfindung über politische Mehrheiten in der Demokratie kann dieses Problem nicht lösen.
Das indifferente Ziel der “sozialen Gerechtigkeit”, das in der Realität als Optimierungskriterium zur Stimmenmaximierung der Politiker fungiert, macht den Sozialstaat auch unfinanzierbar. Es gibt weltweit kein einziges Sozialsystem in der repräsentativen Demokratie, das entweder durch absehbaren Bankrott oder chronische Unterfinanzierung funktioniert.
Würden etwa die deutschen Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherungen wie Kapitalgesellschaften geführt, müssten sie für aus heutigen Beiträgen erworbene Ansprüche, für die in Zukunft keine Beitragsfinanzierung zur Verfügung steht, Rückstellungen bilden.
An genau diesem Phänomen ist übrigens General Motors pleite gegangen. Das Unternehmen hatte keine Kapitalrückstellungen für die Pensionszusagen seiner Mitarbeiter gebildet und war nicht mehr in der Lage, die Verzinsung dieser 80 Mrd. zu erwirtschaften.
Der Umbau des Sozialstaates ist also zwingend erforderlich. Er muß von der Fiktion der “sozialen Gerechtigkeit” Abschied nehmen und sich auf diejenigen konzentrieren, die seiner Hilfe wirklich bedürfen, um ein Leben in Würde zu führen.
11 comments
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22. February 2010 at 11:20
Rayson
Mir scheint, im letzten Satz des viertletzten Absatzes fehlt an entscheidender Stelle ein “nicht”…
Und dass GM keine Pensionsrückstellungen gebildet haben soll, kann ich mir bei aller Kritik am angelsächsischen “fair value” wirklich nicht vorstellen. Die haben wohl eher Probleme gehabt, sie in ausreichender Höhe zu dotieren; die Lage ist also nicht so ganz vergleichbar mit der des Staates, der sich eine Rückstellungsbildung ganz schenken kann und erst bei der Auszahlung Aufwendungen abbildet.
22. February 2010 at 11:38
euckenserbe
Im derzeit nicht zugänglichen Archiv habe ich die GM-Pleite ja untersucht. Das operative Autogeschäft war gar nicht “so” defizitär. Die Pensionszusagen waren zwar bilanziert, aber eben nicht mit realem Kapital unterlegt worden.
Nach amerikanischem Recht hätte der Staat die Pensionszahlungen bis zu einer Höhe von 70.000 $ p.A. übernehmen müssen. Deshalb war die Verstaatlichung und Überlassung von Unternehmensanteilen an die Gewerkschaften bei Verzicht der Arbeitnehmer der billigere Weg.
Solange GM wuchs und zusätzliche Mitarbeiter eingestellt werden konnten, war es ein leichtes, wie in der Umlagefinanzierung aus den laufenden Erträgen die jeweils gerade fälligen Krankenversicherungskosten und Pensionen zu bezahlen. Erst als der Umsatz schrumpfte, wurde das Problem virulent.
22. February 2010 at 17:30
Donauwelle
Wenn ein Politikziel in ein Staatsziel übertragen wird, unterliegt es immer einer autoritären Verstümmelung. Jeder Staatsapparat verfolgt zuerst das Ziel seinen eigenen Fortbestand zu sichern und ist politisch nur insoweit lenkbar als dies damit vereinbar ist. Eine Politik welche darauf hinausläuft dass der Staatsapparat sich selbst überflüssig macht wird von diesem nicht oder nicht authentisch umgesetzt und es kommt es zum rhetorischen und/oder organisatorischen Krampf.
Deshalb kommt Verteilungsgerechtigkeit als Politikziel mit dem Sozialstaat in Konflikt. Der will unbedingt daran festhalten Bedürftigkeitsprüfungen durchzuführen, denn ohne diese verliert er größtenteils seine Existenzberechtigung, sowie die Möglichkeit sich unter dem Vorwand diese wären nicht präzise genug immer weiter aufzublähen. Politik findet jedoch größtenteils außerhalb des Staates statt, auch die sogenannte Politikverdrossenheit ist ja in Wirklichkeit größtenteils eine Staatsverdrossenheit.
22. February 2010 at 22:58
Sesalm
Der Artikel kontrastiert mit der Ordnung des Grundgesetzes. Dass es in der Bundesrepublik verfassungsrechtlich verankerte Staatsziele gibt, ist in der Staatsrechtslehre relativ konsensual akzeptiert. Dazu gehört beispielsweise die Gleichberechtigung. Die Väter (und wenigen Mütter) des GG haben hier anerkannt, dass eine rein rechtliche Gleichstellung zum Zeitpunkt der Verabschiedung keineswegs sofort de facto Gleichberechtigung bedeutet. Dieser Sinn ist klar aus der Sprache des Artikels 3 Abs. 2 erkenntlich:
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
Somit wäre die These einer Kontrastierung von freiheitlicher Ordnung und Staatsziel widerlegt. Die Liberalen hier tun gerne so, als wäre der Weisheit letzter Schluss bereits Mitte des 19. Jahrhundert entdeckt gewesen. Dass aber die Definition dessen, was “freiheitliche Ordnung” und “Freiheit” ist, einer dynamischen Veränderung unterworfen ist, verkennen sie. Diese Veränderung bedeutet ja gerade, dass das organisierte Gemeinwesen darauf hinwirken muss, dass Freiheit – wie sie von einer Mehrheit gewollt wird – durchgesetzt wird. Und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern auch ganz real.
Soziale Gerechtigkeit ist in der Tat schwer zu definieren, insbesondere ist es schwer eine konsensuale Einigung darüber zu erzielen, wann sie erreicht wäre und wie es um sie stünde. Deshalb hat sie an und für sich nichts im Grundgesetz verloren. Sie steht auch nicht drin, sondern nur das Sozialstaatsprinzip.
Trotz allem beruht eine Demokratie zu nicht unwesentlichen Teilen auf dem Ziel oder der Fiktion von sozialer Gerechtigkeit. Demokratische Gemeinwesen zeichnen sich nämlich nicht nur durch die verfassungsrechtliche Verankerung und die tatsächliche Durchsetzung von Grundrechten aus, sondern ebenso durch die mehrheitliche Zustimmung durch ihre Bürger. Eine gesellschaftliche Ordnung, die aufgrund der Vermögenverhältnisse von der Mehrheit der Bürger als illegitim angesehen würde, wäre in einer Demokratie staatlicherseits nicht schützenswert. Warum auch sollte der Staat mit denen ihm von seinen Bürgern zur Verfügung gestellten Gewaltmittel eine solche Ordnung verteidigen? Eine Ordnung von Gottes Gnaden gibt es nicht mehr – somit beruht jede gesellschaftliche Ordnung einerseits auf den Grundrechten und andererseits auf der allgemeinen Zustimmung durch die Bürger. Wenn eines dieser beiden Fundamente wegbricht, endet die Demokratie und heraus tritt eine Diktatur.
23. February 2010 at 18:19
Donauwelle
Das ist doch Geschwafel. Die Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Politikziels Gleichberechtigung in ein Staatsziel zeigen sich etwa in der Kopftuchdebatte. Soll der Staat sich ins Recht gesetzt sehen, Arbeitnehmerinnen, die auf Wunsch ihres Arbeitgebers Kopftuch tragen, beispielsweise weil dieser aus einem Land gelenkt wird wo soetwas vorgeschrieben ist, mit Gewalt daran zu hindern das zu tun, oder wäre dies eine Verletzung der freiheitlichen Ordnung?
24. February 2010 at 11:53
Sesalm
Dein Beispiel wäre eine Verletzung der freiheitlichen Ordnung, weil religiös begründete Kleidungsvorschriften am Arbeitsplatz (solange es sich nicht um eine religiöse Einrichtung handelt) dem Gesetz zuwider laufen. Zumal Gesetze anderer Staaten in Deutschland ohne Gültigkeit sind.
Dass Staatsziele Probleme aufwerfen, habe ich nicht bestritten. Das heisst allerdings nicht, dass es sie nicht gibt. Die gesamten Grundrechte sind Staatsziele, da ihre Achtung und Umsetzung eben nicht überall im Staat und auf dem Territorium dieses Staates erfolgen. Wir haben ein Bundesverfassungsgericht und zahlreiche andere höhere Gerichte, bei denen explizit der Staat und seine Organe verklagt werden können, wenn sie den eigenen Staatszielen zuwider handeln.
Staatsziele sind schon deshalb erforderlich, weil die Grundlage jeder Politik ein Gemeinwesen ist, das auf dem freien Willen seiner freien Bürger basiert. Anders wäre der Staat gar nicht zu legitimieren. Grundsätzlichstes Staatsziel ist dabei die Erhaltung der eigenen Staatlichkeit. Wenn die Bürger dies jedoch nicht wollen, weil sie ihres Gemeinwesens leid sind, dann kann der Staat entweder mit Gewalt zusammengehalten werden, oder er wird zusammenbrechen. Die DDR ist das beste Beispiel. Nach ihrer Demokratisierung stimmten 80% der Bürger für solche Parteien, die diesen Staat überwinden wollten. Damit hatte dieser Staat seine Existenzberechtigung verloren, und weil er eine Demokratie war, folgte auch seine Selbstauflösung.
24. February 2010 at 13:08
euckenserbe
Die Herstellung der Gleichberechtigung ist eben kein Staatsziel, dass alle Bürger auf ein bestimmtes Verhalten verpflichtet, sondern dient dem Schutz der individuellen Freiheit der Frauen.
Nur weil etwas nicht aus dem 19. Jahrhundert stammt, ist es besser als etwas, das im 18. formuliert wurde. Bestes Beispiel ist das Rad: Das wurde bisher auch noch nicht neu erfunden.
Das Kopftuchbeispiel ist auch grenzwertig. Es handelt sich um den Schutz der individuellen Freiheit der Frauen, die aus funktionalen (etwa hygienischen) Gründen kein KOpftuch tragen w o l l e n.
Eine freiheitliche Ordnung kann kein Staatsziel haben, weil das mit den Zielen seiner Bürger oder freiwilliger Organisationen konkurrieren würde und nur mit Zwang durchgesetzt werden könnte. Aber das beweist Sesalm ja mit seinem DDR-Beispiel.
25. February 2010 at 16:17
Sesalm
Ein Staatsziel bedeutet keine Handlungsverpflichtung aller Bürger, sondern eine Handlungsverpflichtung der staatlichen Organe. Die individuelle Freiheit der Frauen war zum Zeitpunkt der Verabschiedung des GG nicht erreicht. Insofern hatte dieses Staatsziel seine Berechtigung.
Freiheit ist etwas komplizierter, da viel abstrakter als das Rad. Das Verständnis von Freiheit ist in der Tat einem Wandel unterworfen.
“Eine freiheitliche Ordnung kann kein Staatsziel haben, weil das mit den Zielen seiner Bürger oder freiwilliger Organisationen konkurrieren würde und nur mit Zwang durchgesetzt werden könnte.”
Unsinn. Nur weil die NPD gegen die Unantastbarkeit der menschlichen Würde ist, heisst das nicht, dass der Staat sich den Schutz dieser Würde nicht als Ziel setzen kann. Ebenfalls Unsinn, dass der Staat zur Erreichung seiner Staatsziele keinen Zwang anwenden dürfte. Natürlich darf er das und er tut es die ganze Zeit. Freiheitliche Ordnung heisst doch nicht, dass sich die Gesellschaft zum Abschuss freigibt!
25. February 2010 at 09:49
Donauwelle
@Sesalm – Also, Kopftuch oder kein Kopftuch?
Ohne allgemeines Grundeinkommen ist schließlich auch eine handelsübliche Ehe eine abhängige Beschäftigung.
25. February 2010 at 16:08
Sesalm
Nur Kopftuch, wenn es aus freien Stücken getragen wird. Kein Arbeitgeber kann eine Arbeitnehmerin dazu zwingen.
Die bürgerliche Ehe war ehemals als Abhängigkeitsveranstaltung gedacht. heute kann sich allerdings jede Frau selbst nen Job suchen. Falls sie das nicht tut, erhält sie im Scheidungsfalle Unterhalt. Insofern erkenne ich keine Relevanz für die Gleichberechtigungsdebatte.
Grundeinkommen gibt’s übrigens schon. Es heisst Hartz4.
25. February 2010 at 16:57
Donauwelle
Das wäre es dann wenn man sich bedingungslos darauf verlassen könnte. Hartzgeld ist nur ein Almosen.