Von Hindenburg, dem Totengräber der ersten deutschen Republik, sagte man, er habe die komplette Weimarer Reichsverfassung auswendig gekonnt. Sollte das stimmen, hatte der greise Feldmarschall ein gutes Gedächtnis, das ihm als Präsident des heutigen Deutschlands aber nicht viel genützt hätte. Knapp 60 DIN A4-Seiten füllt das Grundgesetz, etwa doppelt so viele Seiten wie die alte Reichsverfassung, in der sogar noch das Kolonialwesen aufgeführt war. Die aktuelle Fassung des Grundgesetzes gleicht dem Zustand unter Hempels bekanntem Sofa.

Ein kurzer Blick in den Abschnitt “Finanzwesen” erzeugt eine Gänsehaut und lässt dem interessierten Leser die Haare zu Berge stehen. Ausnahmen, Sonderfälle, der ÖPV und die EU werden in den Artikeln 104a bis 115 in fürchterlichen Sätzen dargestellt, relativiert und abgewogen. Ein Kompetenzchaos, das durch Bundesgesetze näher geregelt werden soll. Und diese Gesetze sehen bestimmt nicht besser aus, sollen sie doch die Regeln der Verfassung an den Alltag anpassen.

Es ginge auch einfacher: Artikel 106 führt exakt auf, welche Einnahmen den Ländern zustehen und welche dem Bund. Und das sollte eigentlich reichen, aber Mechanismen wie der Finanzausgleich führen eine solche Aufstellung ad absurdum, denn leider ist der Föderalismus in Deutschland seit den siebziger Jahren in einem Maße zurückgefahren worden, dass in Artikel 104a §1 (“Der Bund und die Länder tragen gesondert die Ausgaben, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt.) nur noch der Teil hinter dem letzten Komma wirklich wichtig ist.

Eine Verfassung soll grundlegende Regeln eines Staatswesens festhalten. Das Grundgesetz geht darüber längst hinaus, da die Politik bestimmte Umverteilungsmechanismen in die Verfassung aufnahm, um diese quasi in Stein zu meißeln, sie unantastbar zu machen. Denn was einmal im Grundgesetz steht, ist kaum noch wegzukriegen. Die europäische Verfassung / Lissabon-Vertrag geht diesen Weg mit etwa 150 Seiten noch einen Schritt weiter.